Der Psychiater Dr. Jan Kalbitzer forscht zum Thema Internet und seelische Gesundheit. Seine Beobachtung: Wir kennen die Auswirkungen des Internets – wichtiger ist, wie wir damit umgehen wollen.

Das Gespräch führte Theo Starck
Jan Kalbitzer
Dr. Jan Kalbitzer
(Foto: Praxis Kalbitzer)

Für das Gespräch lädt Kalbitzer in seine Kreuzberger Maisonette-Wohnung. Während er Ingwer schält und Zitronen quetscht, um daraus zwei frische Tees aufzubrühen, schreit von unten ein Baby herauf. Kalbitzer ist in Elternzeit. Bevor das Interview beginnt, stellt er dem Interviewer selbst ein paar Fragen zur Digitalisierung, dann ist er dran.

Herr Dr. Kalbitzer, als wissenschaftlicher Leiter des Ladenburger Kollegs „Internet und seelische Gesundheit“ der Daimler und Benz Stiftung an der Berliner Charité haben Sie eine recht außergewöhnliche Perspektive auf die Digitalisierung. Lässt sich die Digitalisierung wie ein Patient auf der Couch analysieren?

Ich würde gar nicht sagen, dass meine Perspektive auf die Digitalisierung etwas Besonderes ist, sondern meine Perspektive auf Wissenschaft und auf Ärzte. Ich glaube vor allem, dass wir Ärzte und Wissenschaftler unserer Verantwortung nicht gerecht werden, wenn wir aus einem Bauchgefühl heraus etwas Neues für schlecht erklären, ohne es überhaupt richtig untersucht zu haben. Mein Psychiater-Kollege Manfred Spitzer etwa hat nur sehr wenige Untersuchungen zur Digitalisierung gemacht und trotzdem verteufelt er das Internet und Smartphones in seinen populärwissenschaftlichen Büchern und Vorträgen und zitiert dabei nur sehr einseitig Studien, die seine vorgefertigte Meinung stützen. Das große Problem dabei ist, dass wir Ärzte und Wissenschaftler eine gesellschaftliche Autorität haben, wir werden ernst genommen. Umso wichtiger ist es, dass wir allem Neuen gegenüber – und das gilt auch für die Digitalisierung – unsere Objektivität aufrechterhalten.

Wie äußert sich diese Angst vieler Wissenschaftler und Ärzte vor dem Neuen?

Konkret in Bezug auf die Digitalisierung sehe ich, dass viele Studien überinterpretiert werden. Wenn etwa festgestellt wird, dass die Teilnehmer einer Untersuchung 80 bis 90 Mal am Tag auf ihr Smartphone schauen, dann wird daraus schnell abgeleitet, dass Menschen, die ein Smartphone besitzen, ungesund leben. Aber eine solche Ableitung ist nicht möglich; wir wissen ja noch gar nicht, ob es gut oder schlecht ist, so oft auf sein Smartphone zu schauen. Bei solchen Untersuchungen werden schon vorher Normen definiert. Dabei wird übersehen, dass Nutzer ganz unterschiedliche Menschen sind und dass sich auch das Internet permanent verändert.

Wie bewerten Sie die derzeitige Forschung zum Phänomen der Digitalisierung generell?

Das Problem ist, dass diese Forschung im Grunde unmöglich ist – weil sich ihr Feld so rasant entwickelt. Wir selbst sind angetreten mit dem Vorhaben, die Auswirkungen des Internets auf die seelische Gesundheit zu untersuchen. Aber je länger wir das tun, umso mehr erkenne ich, dass wir eigentlich die Auswirkungen technischen Fortschritts generell auf die Psyche untersuchen müssten: Wie reagieren wir ganz allgemein auf die immer schnellere Entwicklung von Technik? Die Herausforderungen, die gerade auf uns zukommen, haben teilweise gar nichts mehr mit dem Internet zu tun.

Wie meinen Sie das?

Nehmen Sie zum Beispiel das Smartphone. Viele Menschen laden sich dort eine Menge Spiele herunter und spielen dann offline. Es geht also um Verfügbarkeiten und um die Frage, wie wir diesen technischen Fortschritt so regulieren, dass wir gut damit umgehen können. Die weitaus wichtigere Frage ist deshalb, wie wir als Menschen sein wollen. Daher möchten wir mit unserer Forschung zum Thema Internet und Technik herausfinden, wie wir der Gesellschaft helfen können, diese Frage anzunehmen und sie vernünftig zu lösen. Das „natürlich Menschliche“ gibt es sowieso nicht mehr, wir leben ja nicht in Höhlen, essen rohes Fleisch und schlagen uns die Köpfe mit Holzknüppeln ein. Heute entscheiden wir selbst, was menschlich ist. Das ist eine große Verantwortung.

Zu welchen Erkenntnissen sind Sie im Rahmen des Forschungsprojekts gekommen?

Ein wesentlicher Punkt, auf den wir in unserer Forschung immer wieder stoßen, ist die Fähigkeit zur Impulskontrolle. Dem ersten Impuls nicht gleich nachzugeben, ist eine extrem wichtige Qualität, die wir als Menschen lernen müssen, wenn wir mit Technik besser umgehen wollen. Genau diese Fähigkeit erlernen jüngere Menschen immer weniger, weil ihre Bedürfnisse in der Regel sehr schnell befriedigt werden. Wir wissen alle, dass es nicht gut für unser Sozialleben ist, wenn wir die ganze Zeit am Smartphone hängen. Deshalb brauchen wir weniger Forschung zu der Frage, was das Internet mit uns macht. Wichtiger sind Antworten auf die Frage, wie man Menschen dazu befähigt, mit den Möglichkeiten der Moderne, insbesondere der Überflussgesellschaft, umzugehen. Denn diese Fähigkeit haben wir offensichtlich noch nicht in ausreichendem Maße. Auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten etwa haben führende deutsche Politiker und Journalisten auf Twitter sehr impulsiv und emotional reagiert. Damit werden sie ihrer Vorbildrolle nicht gerecht und heizen Angst und Aggressionen in der Gesellschaft an. Ein solch naiver Umgang mit den Sozialen Netzwerken hat massive Folgen für unsere Gesellschaft.

Lassen Sie uns über Ihre Forschung an der Charité sprechen. Was machen Sie dort genau?

Zunächst einmal arbeiten wir sehr virtuell und interdisziplinär. Mir geht es darum, Leute zu bündeln, die verschiedene Perspektiven auf das Thema haben. Ich wollte auf keinen Fall, dass das Kolleg rein medizinisch ausgerichtet ist. Deshalb arbeiten wir nicht nur in einem interdisziplinären Kernteam mit Medienwissenschaftlern aus Münster sowie Philosophen aus Tübingen und Paderborn zusammen, sondern auch mit Künstlern und Intellektuellen. Was das Internet betrifft, sind Wissenschaftler ja gar nicht diejenigen, die das meiste Wissen haben. Leute wie Kathrin Passig, Sascha Lobo oder die Leute vom Chaos Computer Club kennen sich da viel besser aus.

Welche Rolle spielen dabei die Förderer und Geldgeber?

Für ein solches interdisziplinäres Projekt eine Finanzierung zu bekommen, ist leider nicht einfach. Keine wissenschaftliche Stiftung wird sagen, dass sie uns auch Geld für Künstler als Teil eines wissenschaftlichen Projekts gibt. Dabei sind solche Verknüpfungspunkte außerordentlich wichtig! Ich glaube, wir sind in die Falle der Rationalität geraten. Wir glauben, dass gesellschaftliche Prozesse wie die Digitalisierung rational gelöst werden können. Dabei sind sie stark mit Ängsten verbunden, haben also auch eine sehr emotionale Seite. Unser Ziel war daher von Anfang an, uns über das rein Kognitive hinaus an einem gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Mit diesen Vorstellungen bin ich zu verschiedenen Stiftungen gefahren und habe ihnen das vorgestellt. Dabei ist mir erst mal klar geworden, dass Stiftungen Orte sind, an denen sehr viel aktuelles Wissen gewissermaßen „anbrandet“. Das führt dazu, dass gerade in Stiftungen oft sehr interessante Leute sitzen, die ihren Alltag damit zubringen, sich mit neuen, spannenden Ideen auseinanderzusetzen. In der derzeitigen Zusammenarbeit mit der Daimler und Benz Stiftung sind wir viel im Dialog über aktuelle Themen – und das habe ich nie als Einmischung empfunden.

In Ihrem Buch „Digitale Paranoia“ schreiben Sie allerdings auch über Wissenschaftler, die mit eher zweifelhaften Thesen an Stiftungen herantreten, um quasi ihre eigene digitale Paranoia fördern zu lassen. Wie sollten Stiftungen damit umgehen?

Mein Eindruck ist, dass viele Stiftungen die Standardsätze und Buzz-Words der Wissenschaftler kennen und damit umzugehen wissen. Nur in manchen Fällen scheinen mir Stiftungen etwas zu sehr in ihren eigenen Vorgaben und Rahmenrichtlinien gefangen zu sein. Ich glaube, dass Neugier die beste Haltung ist, um mit der ständigen Veränderung in unserer Welt umzugehen, weil es dem Neuen gegenüber auch ein Gestalten ermöglicht. Angst führt dazu, dass man sich versteckt. Diesen Unterschied zu erkennen und Neugier statt Angstmacherei und Dramatisierung zu fördern, ist die große Verantwortung wissenschaftlicher Stiftungen.

Zurück zu Ihrer Forschung, in der Sie sich auch mit unserem Verhältnis zum Tod auseinandersetzen.

Ja, durch den Umgang mit dem Internet haben wir das Gefühl, dass Prozesse immer weitergehen. Fast alles, was wir im Internet tun, sind fortlaufende Prozesse: Aktivitäten wie spielen, Nachrichten checken oder kommunizieren sind auf Unendlichkeit hin angelegt. Dadurch entsteht bei uns das Gefühl eines unendlichen Stroms. Im Leben aber gehen die Prozesse zuende, vor allem das Leben selbst. Aber es gibt so viele spannende Fragen im interdisziplinären Grenzbereich, zum Beispiel die zunächst sehr einfach klingende, aber unendlich schwer zu beantwortende, wo der Unterschied zwischen analog und digital eigentlich genau liegt. Die Philosophen in unserem Projekt sagen mir, dass es gar keinen Unterschied gibt, weil Identität ein performativer Akt ist, egal ob im analogen oder im digitalen Raum.

Aber Ihre Erfahrung als Psychiater sagt Ihnen etwas anderes?

Ja. Ich spreche immer wieder mit Menschen, die sagen, dass sie da einen Unterschied erleben. Sie erleben die Begegnung mit anderen Menschen im Internet als nicht so verstörend, wie sie es im direkten Kontakt tun, weil sie nicht mehr mit der gleichen intensiven Präsens wahrnehmen, dass da ein anderer Mensch mit einer ganz eigenen Identität und Perspektive sitzt. Diese tiefergehende Verstörung ist aber wichtig für die Entwicklung der eigenen Identität. Sie bringt mich erst zu der Erkenntnis: Ich bin nur einer von vielen und muss meine Weltsicht in Relation zu anderen stellen. Eine Fähigkeit, die jemanden wie Sascha Lobo, der in der Öffentlichkeit als Enfant terrible immer noch unterschätzt wird, deutlich besser für objektive Auseinandersetzungen mit dem Internet befähigt als viele von sich selbst überzeugte Wissenschaftler.

Womit beschäftigen Sie sich noch im Rahmen Ihres Forschungsprojekts?

Ein Komplex, der mich sehr fasziniert, ist die Frage von Scham und Schuld als gesellschaftliche Sanktionsmittel und Regulative. Generell nutzen wir beides als eine Form der Bestrafung. Im Internet und in den Sozialen Medien wird einem allerdings ständig vorgeworfen, sich dieses oder jenes schuldig gemacht zu haben. Dadurch haben diese Regulationsmechanismen stark an Wirkung verloren, und Tabubrüche werden eher möglich. Das hat einen gravierenden Einfluss auf den kulturellen Zusammenhalt in der Gesellschaft, weil wir zumindest ein Stück weit unsere Regulative verlieren.

Das klingt nicht gerade so, als könnten wir uns auf unsere digitale Zukunft freuen.

Das wird sehr stark davon abhängen, ob wir den zunehmenden gesellschaftlichen Spaltungsprozess, der durch die Sozialen Medien noch verstärkt wird, in den Griff bekommen. Ich glaube, wenn sich das Polemisieren und Polarisieren fortsetzt, dann wird unsere digitale Zukunft kein schöner Ort sein. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir es schaffen können, weil ich auch Pendelbewegungen sehe. Es gab ein Extrem hin zu sehr polarisierender Kommunikation, doch das entwickelt sich gerade insgesamt wieder zurück; vieles wird ruhiger. Das macht mich zuversichtlich.

Über den Gesprächspartner: Dr. Jan Kalbitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin. Zum Thema Internet und seelische Gesundheit schreibt er unter anderem für ZEIT Online, Spiegel und FAZ. 2016 erschien sein Buch „Digitale Paranoia“.


Das Interview erschien erstmals im Magazin Stiftungswelt.

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